Raja sass da und konnte es gar nicht glauben. Kauno und ich versuchten, sie zu beruhigen und zu überzeugen, mit uns zu kommen und mit uns zu fressen. Wir hatten ja reichlich Katzenfutter, Dosen und Brekkies, und auch der Park stellte uns genügend Nahrung zur Verfügung – die wir allerdings erjagen mussten.
Zunächst sollte Raja einmal die fette Maus, die ihr Kauno gefangen hatte, verspeisen. Langsam, ganz langsam und ohne Hast begann sie zu fressen. Kauno konnte kein einziges Mal seine Augen von ihr lassen. „Magst du noch etwas, soll ich dir noch etwas fangen?“, fragte er die kleine Kätzin. „Oh, ja, bitte. Ich könnte noch eine Maus vertragen“, antwortete Raja leise. Kauno huschte weg, um gleich drauf mit einer weiteren fetten Maus zurückzukehren, die er wieder vor die Pfoten seiner Angebeteten legte. Ich habe meinen Kumpel noch nie so gesehen. Er war wie ausgewechselt. War daran wohl Raja schuld? Aber die hatte andere Probleme. Vorerst einmal.
Raja ass und ass. Alles, was ihr Kauno brachte, verschlang sie langsam, aber mit Genuss. Sie hatte schon lange nicht mehr so viel und gut gegessen. Nach einiger Zeit, als sie schon satt war und nichts mehr in ihr kleines Bäuchlein aufnehmen konnte, fragte Kauno zaghaft, ob sie sich zutrauen würde, über den Baum auf unseren Balkon zu klettern. Beschämt sah Raja an sich herab und bemerkte kleinlaut: „Ich denke, dass ich noch zu schwach bin, um auf den Baum zu klettern. Ist ja doch ein schönes Stück um auf den Balkon zu gelangen“. Da tat Kauno etwas, was ich als die ungewöhnlichste Geste einer Katze, also einem von uns, jemals erlebt habe. Er bot Raja an, auf seinem Rücken auf den Baum und dann von dort auf den Balkon zu gelangen. Ich war nicht überrascht, denn mein Kumpel war von Anfang an hin und weg gewesen, sobald er Raja gesehen hatte. Langsam und bedächtig kletterte er den Baum hinauf, Raja auf seinem Rücken, die sich festkrallte, und sprang dann vom Baum auf den Balkon. Kauno hatte immer noch enorme Kraft, und ich überlegte bei mir, ob er nicht doch bei der Katzenolympiade mitmachen sollte. Aber ich wollte ihn nicht drängen; er sollte selbst entscheiden, ob er das wollte oder nicht.
Auf dem Balkon angekommen, legte sich Raja sofort auf den Boden, schloss die Augen und schlief auf der Stelle ein. Kauno sah sie lange Zeit an und überlegte, wie er dieses kleine Wesen wieder auf Vordermann bringen könnte – aber noch war es nicht so weit.
Einige Zeit später kam mein Herrchen nach Hause und trat zu uns auf den Balkon. Seine fragenden, auf Raja gerichteten Augen waren uns am Anfang nicht ganz geheuer, doch spätestens als er sich hinab beugte und die schlafende Raja streichelte, wussten wir, dass wir keine Sorge haben müssten. „Ja, was ist denn hier los? So eine arme kleine Katze! Was hat sie denn alles durchmachen müssen, die Arme…“ Wir beide, Kauno und ich, miauten laut, also berichteten, wie und unter welchen Umständen wir diese liebe Katzenfreundin kennen gelernt hatten. Natürlich verstand Herrchen nicht alles, aber er begriff, dass wir beide mit jeder Faser unseres Körpers hinter unserer neuen Freundin stehen würden. Kauno setzte sein allerliebstes Katzengesicht auf – und Herrchen war überzeugt und gewonnen.
In der Folge besorgte er eine Katzenbürste, zusätzliches Futter für unsere Mitbewohnerin, einen Kratzbaum und einige Dinge, die notwendig sind, um ein armes, verwahrlostes Katzenkind wieder aufzupäppeln. Raja wurde herzlich bei uns aufgenommen, Herrchen war sehr lieb und fürsorglich zu ihr, gab ihr auch viele Streichelmengen, und ich wurde fast ein wenig eifersüchtig, weil er sich so viel um sie kümmerte.
Langsam fasste Raja wieder Vertrauen, zu den Menschen, aber vor allem zu Kauno, der sie nie aus den Augen liess. Er war jetzt ihr kätzischer Beschützer geworden, und beide verstanden sich wunderbar. Mit der Zeit wurde unsere Freundin wieder die Alte, die sie früher gewesen sein musste. Eine wunderschöne Katze, nicht mehr so ausgehungert und dünn, nicht mehr so struppig und ungepflegt, nicht mehr so bemitleidenswert. Mit der Zeit wurde sie dann unsere fixe Mitbewohnerin, von unserem Herrchen akzeptiert und geliebt, von mir als Freundin anerkannt – und von Kauno? Von ihm wurde sie als die Katze seines Lebens betrachtet, und das ist sie bis heute geblieben.
Heute, nach einiger Zeit, kann ich sagen, dass sie eine Katzenschönheit wurde, wie ihre Mutter es wohl gewesen war. Und Kauno lebte auf und begann heimlich mit dem Training für die Katzenolympiade. Ich unterstützte ihn dabei mit Rat und Tat, und mit der Zeit musste ich erkennen, dass er ein grosses Talent war und echte Chancen bei diesem grossen Event hatte. Aber noch war Zeit, und die sollte schneller vergehen, als uns eigentlich lieb war…