Seit mein Freund Kauno verletzt wurde, hat mein erbauliches Katzenleben einen plötzlichen Einschnitt erfahren. Vor allem wird mir bewusst, dass ich mich ohne Kauno sehr allein fühle. Sicher, mein Herrchen ist meistens da, aber er setzt sich tagsüber immer an seinen Computer und tippt fleissig hinein – was, weiss ich nicht. Manchmal lege ich mich daneben auf den Schreibtisch hin, aber ich kann ja doch nicht lesen, was er schreibt, und er beachtet mich auch kaum, da er sich sehr auf seine Arbeit konzentriert. So schlafe ich dann oft ein…

Oder meine Gedanken schweifen zu Kauno. Wie lange kenne ich ihn eigentlich schon? Genau kann ich es nicht sagen, es kommt mir zwar lange vor, aber wir Katzen haben ja eine andere Zeitrechnung als die Menschen.

Als ich als kleines Katzenkind von meinem Herrchen von weit her in diese Wohnung gebracht wurde, war es Winter. Ich kam ja von einer Pflegemutter in der Steiermark, die ausser mir noch einige andere kleine Kätzchen aufgenomen hatte, um sie an liebevolle Menschen weiterzugeben. Das dort war natürlich mehr eine Notunterkunft, obwohl sich die Pflegemutter sehr um uns bemühte. Aber wir mussten uns sowohl das Futter als auch die Spielsachen und die Zuneigung der Pflegemutter teilen. In meinem neuen Zuhause war das ganz anders. Mein neuer Besitzer konzentrierte seine Liebe ganz auf mich, er hatte mir einen wunderschönen Kratzbaum in seinem Arbeitszimmer aufgestellt, auf dem ich nach Herzenslust herumklettern konnte. Er hatte vier Plattformen, und auf der obersten war ein weicher Schlafplatz für mich eingerichtet. Ausserdem hingen verschiedene Spielsachen daran, kleine Mäuse und Bällchen, die ich herumschubsen konnte.

Die Wohnung meines Herrchens war auch viel grösser als die, wo ich hergekommen war, und ich verbrachte viel Zeit damit, sie zu erkunden und zu entdecken. So wuchs ich heran, mein Herrchen verbrachte viel Zeit mit mir, spielte täglich eine halbe Stunde mit mir, und als ich ein paar Monate alt war, begann er – zuerst auf spielerische Weise – Kraft- und Laufübungen mit mir zu machen, die schliesslich in ein richtiges Sport-Training übergingen.

Es muss schon eine Weile her sein –im folgenden Winter, als ich schon eineinhalb Jahre alt und es draussen ziemlich kalt war – als ein grosser, kräftiger, grauer Kater zu uns in den Park kam. Zuerst hielt ich ihn für einen hochnäsigen und eingebildeten Vertreter unserer Spezies. Er sprach fast mit niemandem und wirkte sehr introvertiert. Niemand wagte sich in seine Nähe. Er hatte eine gruselige Ausstrahlung, und durch seine Körpergrösse und seine Muskulatur, die schon sehr eindrucksvoll war, wirkte er sehr furchteinflössend. Da ich aber selbst nicht schwach bin und auch als grosser, schwarzer Kater eine gewisse Selbstsicherheit habe, ging ich einfach an einem kalten Abend auf ihn zu und grüsste ihn freundlich. Anfänglich beachtete er mich kaum; er grüsste zurück und ging seiner Wege. Damals dachte ich mir meinen Teil und machte mich auf, wieder über meinen Baum, der mir ja immer als Leiter dient, auf den Balkon und durch die Katzenklappe in mein warmes Domizil zu gelangen. Er blickte mir nach und drehte sich wieder um – Richtung Park – um sich dort sein Abendessen zu holen. Natürlich eine fette Ratte. Damals wusste ich noch nicht, dass er in seinen Bewegungen fast so schnell war wie ich. Innerhalb kürzester Zeit hatte er eine Ratte gefangen und setzte sich hinter einen Baum, um sie zu verspeisen. Sein Fell war gesträubt durch die Kälte und sein Blick musste ziemlich neidisch gewesen sein, als er mich beobachtete, wie ich durch die Klappe in der warmen Wohnung verschwand.

Ich hatte mir vorgenommen, am nächsten Morgen mit ihm zu reden. Mir gefiel seine Art – unaufdringlich und zurückhaltend, eher scheu, was gar nicht im Einklang mit seiner wuchtigen Gestalt stand. Er war wirklich kräftig gebaut, und ich konnte das ja beurteilen, war ich doch von meinem Herrchen seit meinem 3. Menschen-lebensmonat an trainiert worden. Ja, mein Herrchen…. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, meine Reaktionen und meine Muskeln zu trainieren, damit ich in der „freien Wildbahn“ auch selbst mein Futter besorgen konnte. Im Allgemeinen gab es immer gutes Katzenfutter für mich, Hartfutter, Leckerlis und Katzenstangen mit den unterschiedlichsten Geschmacksrichtungen, aber wenn ich Lust habe und hatte, dann sprang ich in den Park oder in die benachbarten Grünanlagen und holte mir meine Mahlzeiten eben dort.

Ich bin eigentlich ein sehr glücklicher Kater, habe ein wunderbares Katzenleben, viel Futter und Freiheit in Hülle und Fülle – so wie wir Katzen es eben lieben. Aber ich wusste auch, dass es viele Katzen gibt, die nicht annähernd so leben können wie ich.

Sie sind so genannte Streunerkatzen und leben ein erbärmliches Leben in der von den Menschen kaum beachteten Umwelt. Sie leiden unter der Kälte im Winter und haben kein Zuhause, wo sie Futter, Zuneigung und Wärme finden.

So musste es auch dem grossen grauen Artgenossen ergehen, der neu in unserem Park aufgetaucht war. Klar war ich neugierig, wer das sein könnte, von wo er käme und welches Schicksal er hinter sich hätte, aber da musste ich mich wohl noch gedulden.

Am nächsten Morgen kroch ich schon zeitig in der Früh durch die Katzenklappe ins Freie und erblickte ihn in einiger Entfernung. Einige meiner Kumpel standen um ihn herum und musterten ihn. Ein ebenso grosser Kater, er heisst Strizzi, pfauchte ihn an: „He, wer bist du? Von wo kommst du? Was machst du hier in unserem Park?“

Der „grosse Graue“ – Namen wusste ja noch niemand meiner Freunde – schaute ruhig in Strizzis Augen und sprach: „Kein Grund zur Panik. Ich heisse Kauno und bin von meiner früheren Familie vor längerer Zeit ausgerissen. Ich habe es nicht ertragen, ein Spielobjekt zu sein“.

Da war der Bann gebrochen. Strizzi ging zu ihm hin und legte seinen Schwanz um seinen Körper. „Sorry, das wusste ich nicht“, sagte er „natürlich bist du bei uns im Park willkommen. Wer will schon Spielzeug eines Menschen sein? Aber du bist eher ein stiller Kumpel und redest nicht viel. Hast du schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht?“  „Das willst du gar nicht wissen“, sagte Kauno und verabschiedete sich wieder.

Als er bei mir vorbei ging, blickte er mich kurz an und zwinkerte mit seinen blitzenden gelbgrünen Augen. Ich zwinkerte zurück, was so viel wie ein Lächeln bedeutete, und da drehte er sich um und kam auf mich zu. „Hallo, ich bin Kauno“ sprach er mich an und legte überraschend seinen Schwanz um mich, was ich als ausgesprochen nette Begrüssung empfand. „Und ich bin Benny und lebe dort oben in der Wohnung mit dem riesigen Balkon. Dort habe ich eine Katzenklappe und kann immer – wann und wenn ich will –  in die Freiheit, aber auch in der Wohnung bleiben, wenn es draussen kalt und ungemütlich ist“.

„Dir geht’s gut“, sagte Kauno zu mir und fügte noch hinzu: „Aber ich bin froh, dass ich frei bin und nicht mehr von einem Menschenkind gequält werde. Die hat mich nur als Spielzeug gesehen, und da war ich mir zu schade. Ich bin durch die halbe Großstadt gelaufen und hier im Park gelandet, denn da gibt es viel zu jagen und auch einige Verstecke, wenn mir zu kalt wird.“

Wir verabschiedeten uns sehr herzlich, legten unsere Schwänze um unsere Körper und leckten uns die Ohren, wie es halt bei Katzen so  üblich ist, wenn sie sich verstehen. Und wir verstanden uns von Anfang an. Die Menschen nennen es Sympathie. Ich hatte einen Freund gefunden und er einen Freund in mir. Einen Freund, der später mit ihm durch dick und dünn gehen sollte. Aber das konnte man damals noch nicht wissen.

Kauno wurde im Park von den anderen Katzen ebenfalls sehr gut aufgenommen und akzeptiert, und bald hatte er sich in die Gemeinschaft eingelebt, wurde gesprächiger und offener und beeindruckte alle mit seiner Schnelligkeit und Sprungkraft sowie mit seiner ruhigen und ausgeglichenen Art.