Wieder hatte mein Herrchen ein Katerfrühstück hinter sich gebracht. Er war mit einem weiblichen Menschen die ganze Nacht unterwegs gewesen. Ja, was soll ich dazu sagen? Ist ja sein gutes Recht. Ich bin ja auch des öfteren nachts mit Kauno unterwegs gewesen… gewesen, ja. Die Ungewissheit, was mit Kauno passierte, quälte mich ständig. Er war jetzt schon mehr als drei Wochen nicht mehr hier. Zwar hatte er seinen Unfall überlebt, war wieder gesund, hatte zu seinem grossen Glück einen menschlichen Retter gefunden – ja, derselbe, der ihn überfahren hatte, aber es ist zu würdigen, dass dieser Mensch nicht einfach weitergefahren ist, ohne sich um meinen Freund zu kümmern, sondern ihn gleich in die Tierklinik gebracht und dann noch daheim gesund gepflegt hatte. Aber Kauno fehlte mir schon sehr. Die anderen Katzen waren mit sich selbst beschäftigt, grüssten mich zwar immer, aber so eine Freundschaft wie mit Kauno gab es mit denen nicht. Also blieb mir nichts anderes übrig, als allein um die Häuser zu ziehen und mir mein Fressen zu organisieren. Natürlich gab mir mein Herrchen auch leckeres Fressen, aber meinem Jagdinstinkt freie Bahn zu lassen, war schon etwas Besonderes.
Eines Abends, ich lag gerade wieder mal am Balkon und sinnierte vor mich hin, dachte an Kauno und an die schönen Zeiten von früher, als ich ein lautes Rufen hörte. Für menschliche Ohren war es ein kräftiges Miauen, doch für mich war es eine vertraute Katzenstimme. Kauno war wieder da! Meine Freude war grenzenlos, als ich Kaunos kräftige Stimme hörte. Er war schon unten im Park und blickte zu mir empor. Er schloss seine Augen, blinzelte mich an, was soviel wie ein menschliches Lächeln bedeutete, und deutete mir, herunter zu kommen. Über den Baum auf meinen Balkon zu klettern, traute er sich noch nicht, dennoch schien er mir wieder vollkommen gesund zu sein.
Jetzt sprang ich so schnell es ging vom Balkon auf den Baum, der ganz nahe stand, und kletterte die paar Meter zu Kauno hinunter. Wir blinzelten uns an, leckten uns gegenseitig den Kopf und den Nacken und sprangen vor Freude in die Luft, rannten kurze Strecken hintereinander her und spielten Fangen. Die Menschen, die uns beobachteten, dachten sich weiss Gott, was wir Katzen hier aufführten, aber das kümmerte uns überhaupt nicht. Wir waren glücklich, dass wir wieder zusammen waren. Was hatte ich mir Sorgen um meinen Freund gemacht! Ich musste ihn unbedingt fragen, wie ihm seine „Flucht“ gelungen war.
Also fragte ich ihn. Er blickte mich kurz an, schloss die Augen zu einem Lächeln und fing an zu erzählen: „Also gut, Benny, es war so: Ich war natürlich auch sehr traurig, dass wir nun getrennt waren und habe tagelang fast nichts gefressen. Mein Retter hat das natürlich bemerkt und fragte sich wohl im Stillen, was mit mir los sein mochte. Er kam aber nicht drauf und war ratlos. Als wir jedoch noch einmal in der Tierklinik waren, zu einer letzten Kontrolluntersuchung, da kam meine Stunde. Du hattest ja die hervorragende Idee, meinen Schwanz in die Tür des Transportkorbs zu klemmen, und so machte ich es auch. Als mich mein Herrchen nach der Untersuchung in den Korb setzte, klemmte ich unbemerkt meine Schwanzspitze in die Tür, wodurch sie sich nicht ganz schliessen liess, und wartete, bis wir auf der Strasse waren. In einem unbemerkten Moment drehte ich mich schnell um, die Tür sprang auf, ich schlüpfte durch und war auf dem Gehsteig in Freiheit. Ich sprintete ein paar Meter, blieb kurz stehen und drehte mich zu meinem Herrchen um, der wie erstarrt auf die offene Tür des Korbes blickte und nicht verstand, was da in diesem Moment vor sich ging. Laut rief er mich, und in seinen Augen konnte ich Entsetzen, aber auch Angst erkennen. Angst, dass ich wieder in ein Auto laufen könnte. Doch davor war ich geheilt. Ich blieb stehen und neigte meinen Kopf, schloss die Augen zum Abschied und rannte – mit ein paar Menschen – über den Zebrastreifen in Richtung Park. Ich weiss nicht, wie viele Menschenkinder, die gerade von der Schule nach Hause gingen, mir verwundert nachblickten, als ich im Eiltempo zu deinem Baum lief. Naja, und den Rest kennst du ja. Du hast mir auch sehr gefehlt, Benny. Aber jetzt können wir wieder gemeinsam im Park nach Mäusen, Ratten und Kleingetier jagen, das aber mit grösster Vorsicht und weitab der Strasse, sodass mir und auch dir nie wieder etwas zustossen möge.“
Die nächsten Tage erlebten wir in wunderbarer Harmonie, teilweise auch auf meinem Balkon, wo auch Kauno im zweiten bequemen Sessel täglich ein paar Stunden in meiner Nähe schlief.